Hamburger Klinik setzt auf Parkinson Therapie per Video

05.01.15MEDIZIN Hamburger Klinik setzt auf Parkinson-Therapie per Video
Neue Wege im Kampf gegen Parkinson: Ärzte des Hamburger Amalie Sieveking-Krankenhauses wählen anhand regelmäßiger Filmaufnahmen ihrer Patienten den passenden Medikamentenmix aus.

Parkinson Matatze
Von Christiane Löll
Foto: Marcelo Hernandez
Dr. Dirk Becker und Dr. Ingmar Wellach bewerten ein Patientenvideo
Parkinson Therapie
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Hamburg. Wenn der Arbeitstag in der Klinik und in der Praxis zu Ende geht, setzen sich die Neurologen Dirk Becker und Ingmar Wellach aus dem Evangelischen Amalie Sieveking-Krankenhaus an einen Laptop und schauen Videos. Es sind zweiminütige Clips, die Patienten mit der Nervenkrankheit Parkinson in ihrem Zuhause selbst aufgenommen haben.

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Die Aufnahmen sind Teil eines je 30 Tage langen telemedizinischen Programms, mit dem die medikamentöse Therapie der Parkinson-Patienten verfeinert wird. Derzeit bieten elf Kliniken in Deutschland dieses Verfahren an, in Zusammenarbeit mit niedergelassenen Neurologen. Das Amalie Sieveking-Krankenhaus nimmt als einzige norddeutsche Klinik daran teil.

Die Videos zeigen die guten und die schlechten Momente der Parkinsonpatienten, zum Beispiel einer 60-jährigen Frau, die vor mehr als zehn Jahren die Diagnose Parkinson erhielt. Wellach und Becker beobachten, wie Dorothea Peters* mit versteinerter Miene und im Zeitlupentempo auf die Kamera zugeht, wie sie an einem anderen Tag mit tänzelnden, ungelenken Bewegungen nur schwer an einem Ort stehen bleiben kann. In anderen Situationen schreitet die Patientin gelassen durch den Raum und macht krankengymnastische Übungen.

280.000 Menschen in Deutschland betroffen
Hinter dem Morbus Parkinson verbirgt sich eine Erkrankung mit komplexen Symptomen. Schätzungsweise 280.000 Menschen in Deutschland leiden darunter. Typisch für fortgeschrittene Stadien ist, dass Patienten plötzlich in der Bewegung verharren und „einfrieren“. „Eine Teppichkante oder enge Stellen in der Wohnung werden zu unüberwindbaren Hindernissen“, erläutert Wellach. Genau diese Schwierigkeiten sind auf einem der Videos von Frau Peters zu sehen. „In einem solchen Zustand hätte mich Frau Peters in der Praxis nicht aufsuchen können“, sagt Wellach. Ein Zittern in Ruhe, depressive Verstimmungen, Blasenfunktionsstörungen, Kreislaufbeschwerden, Muskelsteife und andere Beschwerden können ebenfalls auftreten.

Die Ursache für solche motorischen Symptome ist ein Mangel am Nervenbotenstoff Dopamin. Bestimmte Zellen im Nervensystem und im Gehirn produzieren nicht mehr genug davon. Medikamente können den Mangel ausgleichen. Während am Anfang der Krankheit die Medikamente gut wirkten, werde es im Verlauf der Krankheit immer schwerer, die Wirkstoffe gut zu dosieren, sagt Becker.

Unter anderem liegt dies an Veränderungen der Nervenzellen im Gehirn und an der Aufnahme der Wirkstoffe im Magen-Darm-Trakt, der durch die Krankheit häufig beeinträchtigt ist. Regelmäßig muss die Therapie daher neu eingestellt werden; oft ist dazu ein mehrwöchiger Klinikaufenthalt nötig.

Um dies möglichst zu vermeiden, gründeten zwei Neurologen im Jahr 2002 in Koblenz die Medizinische Videobeobachtung GmbH (MVB) und entwickelten das Verfahren mit anderen Experten und mit Unterstützung der Deutschen Parkinson Vereinigung. „Unsere Erfahrung hatte gezeigt, dass die Abläufe in der Klinik sich oft unterscheiden von dem, wie die Patienten zu Hause leben, und dass daher Therapiepläne oft nicht passten. Deshalb wollten wir sie zu Hause beobachten“, sagt Geschäftsführer Alexander Rzesnitzek.

Die Aufnahmen werden von den Patienten selbst gesteuert, eine Beobachtung in Echtzeit oder dauerhaft ist nicht möglich, so Neurologe Wellach. Frau Peters hatte für die Videoaufnahmen 30 Tage lang eine Kamera in ihrem Wohnzimmer aufgestellt, auf einem Koffer plus Lautsprecher. „Per Armband konnte ich die Kamera ganz leicht einschalten, das habe ich mehrmals am Tag gemacht, dann ertönte Musik, und eine Stimme hat mit mir gesprochen und mir gesagt, welche Bewegungen ich ausüben soll für einen Test“, sagt Frau Peters. „Ich bin jemand, der Antworten auf Fragen braucht, und die konnte ich in die Kamera stellen.“ Regelmäßig wurde sie von ihrem Arzt und einer Krankenschwester der MVB angerufen, über ein Faxgerät kamen aktuelle Medikamenten- und Übungspläne ins Haus, und sie musste ihre eigene Verfassung mit Schulnoten bewerten. Nun nimmt Frau Peters ein für sie neues Medikament – insgesamt sind es acht verschiedene Substanzen am Tag.

„Die Videos schauen sich die Ärzte auf einem Laptop der Firma an, über ein geschlossenes System, das Datensicherheit bietet“, sagt Rzesnitzek. Die Mehrheit der Kassen übernehme die Kosten. Wie hoch sie sind, darüber gibt es verschiedene Angaben. Sie liegen jedoch im vierstelligen Bereich und unter den Kosten für einen vergleichbar langen Klinikaufenthalt.

Das Projekt startete im Jahr 2003. Kassen des Verbandes der Ersatzkassen (vdek) beteiligten sich von Anfang an. Im Jahr 2013 seien über den vdek rund 170 Patienten eingeschrieben gewesen, sagt Stefanie Kreiss von der Landesvertretung Hamburg. Dies solle kontinuierlich ausgebaut werden.

An der Entwicklung beteiligt war Prof. Lutz Lachenmayer, einer der führenden deutschen Parkinsonexperten, der 2008 verstarb. Bis 2006 wirkte er in Barmbek an der heutigen Asklepios Klinik. Sein Nachfolger Professor Peter Paul Urban bot die videobasierte Versorgung nur bis 2009 an. „Die Methode, die Patienten mit Medikamenten neu einzustellen, wenn sie in ihrem häuslichen Umfeld sind, ist zunächst einmal attraktiv. Im Lauf der Zeit haben wir aber mehr Nachteile als Vorteile gesehen“, sagt Urban. Der Personalaufwand sei sehr hoch gewesen, auch habe der Schwerpunkt auf der rein medikamentösen Behandlung der Bewegungsstörungen gelegen. Andere nicht motorische Symptome wie zum Beispiel Blasen- und Blutdruck-Regulationsstörungen oder Gedächtniseinschränkungen seien über die Videobeobachtung kaum fassbar gewesen.

Ingmar Wellach war seinerzeit als Oberarzt in Barmbek mit dem Projekt betreut. Ans Amalie kam er 2011, zwei Jahre später startete dort das Videoprojekt. Mit seinem Kollegen Dirk Becker arbeitet er sowohl im Krankenhaus als auch in der gemeinsamen Praxis. Nur eine Treppe trennt die Bereiche voneinander. Die Klinikexperten arbeiten mit fünf bis acht niedergelassenen Ärzten zusammen.

Frau Peters ist seit einigen Jahren Patientin in der Praxis. Erste Anzeichen ihrer Erkrankung hatte sie wohl bereits 2001. „Nach einer Operation hat mein linker Zeh immer selbständig gezittert, da haben wir noch gelacht“, sagt die dynamische Frau. „Doch dann kamen mit der Zeit Schmerzen im Rücken dazu, und ich zog das linke Bein nach. Plötzlich konnte ich beim Sport bestimmte Bewegungen nicht mehr ausführen.“ Von 2004 an erhielt sie Medikamente, die ihr jahrelang gut halfen. „Zeitweise habe ich morgens im Büro die erste Tablette genommen, doch später reichte das nicht mehr, und ich kam morgens nur noch schlecht in Gang.“

Bei wem Videobeobachtung nicht funktioniert
Im Lauf der Jahre musste Peters mehrfach in die Klinik, um die Therapie umzustellen. Diesen Sommer hatte sie große Schwierigkeiten. „Ich fühlte mich in meiner Selbständigkeit stark eingeschränkt, konnte plötzlich nicht mehr allein einkaufen gehen oder den Haushalt regeln.“ In die Klinik wollte Dorothea Peters diesmal nicht.

„Die Videobeobachtung kommt natürlich nicht für alle Patienten in Frage“, sagt ihr Arzt Ingmar Wellach. „Wenn zum Beispiel die Wirkungsschwankungen zu stark sind, Sturzgefahr besteht, eine anspruchsvollere Pumpentherapie eingesetzt werden muss oder die Indikation für einen Hirnschrittmacher besteht, müssen die Patienten in die Klinik.“ Ist eine stationäre Behandlung angezeigt, können die Patienten in einer Komplexbehandlung versorgt werden.

Auch die Asklepios Klinik Barmbek bietet eine Parkinson-Komplexbehandlung an. Neben medikamentöser Neueinstellung erfolgt eine Untersuchung und Therapie nicht motorischer Symptome, sagt Neurologie-Chefarzt Urban. Dies werde durch Physio-, Ergo- und Musiktherapie sowie Logopädie begleitet. „Dadurch sind wir deutlich näher an den Patienten, als man dies per Videoaufnahme sein kann.“

Kurz vor ihrem 61. Geburtstag ist das 30-Tage-Programm für Dorothea Peters beendet; sie findet es fast ein bisschen schade, dass die Kamera bald abgebaut wird. Sie ist froh, dass sie dieses Mal ohne Klinikaufenthalt ausgekommen ist und kommt gut mit ihrem neuen Medikamentenplan zurecht. Wie lange dieser positive Zustand anhält, müsse sich zeigen, sagen die Ärzte.

* Name von der Redaktion geändert

 

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